Damit wir uns gleich richtig verstehen: Die ganze Vorgeschichte zu diesem Riesenspaß können Sie DORT genauestens nachlesen – aber kommen wir zu den aktuellen Bühnen-Ereignissen.
Die großartig vergnügliche Erzählung »Der schlecht gefesselte Prometheus« von André Gide, übersetzt von Franz Blei und illustriert von Pierre Bonnard, habe ich so oft mir selbst und Freunden und Autorinnen vorgelesen, daß schon vor langem die Idee aufkam, das zu »performen«. Im Goethe-Institut in Tiflis, Georgien, im Kaukasus geschah es einmal (die schöne Spitschki-Schachtel im Bild mittig vor der Nase des Adlers …
… ist ein Gastgeschenk gewesen, wurde sofort in der Inszenierung zündend eingesetzt), in Höchst im »Bierkolleg« kam es vor, an etlichen so eigenwilligen Orten, wie die Geschichte selbst eigenwillig ist. Ein Plüsch-Adler, ein Tisch mit drei Stühlen, ein Kellner-Handtuch, eine Suppenschüssel, einige Feuerwerkskörper mittleren Kalibers, ein paar weitere Requisiten genügen – und natürlich eine kleine Bühne und Bestuhlung für 25 bis 250 Personen. Los geht’s:
»Der Schlechtgefesselte Prometheus« von André Gide – allerdings bitte: in der grandiosen Übersetzung von Franz Blei aus dem Jahr 1907!
Dieses Prosa-Feuerwerk ist vor kurzem endlich als Buch erschienen, ein kleines, feines Handcover, und so standen die nächsten szenischen Lesungen und Performances auf verschiedenen Lese- und Theaterbühnen an – HIER mehr dazu am Beispiel der Aufführung im ITF Internationalen Theater Frankfurt vom 3. November 2025. – Und was passiert da?
Kaum hat der berühmte Kellner am Boulevard, der von der Madeleine zur Oper führt, sein Restaurant mit den praktischen Tischen für Drei eröffnet, da kommt ein Anruf auf der Bühne an: Die anderen Schauspieler sind, so heißt es, krank geworden. Alle! Der Kellner wird alleine spielen müssen, zweimal eine Stunde, Pause dazwischen. – Aber ist denn wenigstens die Souffleuse in ihrem Kasten? Unsicher …! – Einige »Hilfsschauspieler« werden indes, einer der spannendsten Momente des Abends, aus dem Publikum requiriert. Werden wenigstens 4 Freiwillige in den Bühnenzauber einsteigen und jeweils keinen bis 4 Sätze übernehmen?

Nach einer salzigen Begrüßung des Publikums, inklusive des Kulturstaatsministers, des Kunst- und Wissenschafts-Ministers des Landes sowie lokaler Kulturdezernentin – die doch gewiß alle im Saal sind, nein? – und einer Entschuldigung dafür, daß der Kellner nun eben alle Rollen alleine wird spielen müssen (»Steuerereinsparungen, Herr Minister, gewiß!«), ist eine Tageszeitung zur Hand – sie trägt den ersten Teil des herrlichen Gide-Textes. Hernach dient die Speisekarte des Restaurants am Boulevard, der von der Madeleine zur Oper führt, mit den praktischen Tischen für Drei als Träger des Prometheus-Stoffs.
Zu Tisch, zu Tisch! – der Kellner platziert einen gewissen Kokles, einen ungewissen Damokles und den berühmten Prometheus an seinem Tisch für Drei, er selbst stellt, neben dem Tisch stehend, die Herrschaften einander vor – und ein wilder Rollentausch zwischen den vier Figuren kommt ins Rollen, der Kellner setzt sich und wird Kokles, Kokles spricht, springt auf und wird Damokles auf dem Stuhl gegenüber, Damokles springt nach seiner Rede auf und wird der Kellner, der im Stehen Prometheus zu sprechen bittet, fällt auf dessen Stuhl in der Mitte, und Prometheus spricht.
Der spring auf und auf den rechten Stuhl des Damokles, der wechselt nach gegenüber und ist Kokles, der aufsteht und als Kellner spricht – »a Krautsalat, a wuildes Durchanand«, wie Paulus Böhmer gedichtet hat und gesagt haben würde. Hingegen O-Ton des eleganten André Gide in unserer Erzählung: »Nehmen wir an, ich habe nichts gesagt.«
Nur gut, daß der Text auf den jeweiligen Plätzen liegt und greifbar ist für alle vier. – Worüber sie sprechen? – Na, das steht ja im Buch und ist dort mit viel Vergnügen lesbar; oder eben anseh- und -hörbar in der Inszenierung … Jedenfalls geschieht dann das Unvorstellbare:

Es kommt doch noch ein echer Schauspieler hinzu – der Adler! »Jeder sollte einen Adler haben«, sagt Prometheus – und wird es bald bereuen!
Und jetzt kommt erst richtig Schwung in die Bude:

Während der »Acte graduit« diskutiert wird, eine geradezu Nietzsche’sche Erfindung von André Gide, dann Kokles in ein Hand-, Flügel- und Schnabel-Gemenge mit dem Adler verwickelt wird, ein zwielichtiger Zeus, von Franz Blei als »Müllionär« übersetzt, sein Unwesen zu treiben beginnt und Damokles zwar einen 500-Franc-Schein erhält, aber daran zu siechen beginnt – ruft der geriebene Kellner der Reihe nach 4 veritable Hilfs-SchauspielerInnen aus dem Publikum auf und auf die Bühne – »a Krautsalat« ist ein feuchter Handkäse gegen diesen Trubel!

Kann es noch irgendetwas retten, daß sich Prometheus intensiv mit seinem Adler bespricht, der dieses ganze Chaos irgendwie auszulösen scheint? Gar intensiv zu toben und mit dem Acte graduit, der freien Tag, der Autochthon-Tat zu argumentierten oder zu drohen beginnt? – Nein, es hilft alles nichts, Prometheus wird, als Zündholz-Fabrikant ohne obrigkeitliche Erlaubnis, ins Gefängnis geworfen, vulgo: in Ketten gelegt und im Kaukasus angenagelt, der Adler pickt von seiner Leber, ja doch, und am Ende …
… fliegt Prometheus mit dem durch Innereien gut genährten und flügelstarken Adler davon, man sieht’s ja.
Kein Zweifel, das alles steht am Ende in der Morgen-Zeitung, aber da tritt schon ein ganz anderer auf und erklärt uns nichts Geringeres als die gesamte Genesis: Es handelt sich um Tityr, den Mann aus seinen Sümpfen, der sich seine Welt erfindet, sie hegt und pflegt und wachsen macht, zuletzt aber doch sehr ermüdet ist von allem Welten-Schaffen und sich zur Unterhaltung und Entspannung eine Bibliothekarin anlacht. Und mit dieser Angéle flieht er schließlich – eine der großartigsten Binnen-Erzählungen der gesamten Weltliteratur – just auf jenen Boulevard herunter, der von der Madeleine zur Oper führt – aber mehr wird jetzt hier nicht mehr verraten. Sondern muß gelesen oder angesehen werden!
Vorhang!
(Anfragen nach den nächsten Aufführung gerne an: neugier@dielmann-verlag.de)
© Fotos: Hans-Jürgen Lenhart, Frankfurt am Main, und Dagmar Mangold, Bad Soden, mit herzlichem Dank!